Bericht über Geheimhaltung? Sorry, das ist geheim.

Die EU und das Recht auf Zugang zu Information

Gepubliceerd in Telepolis, 16 december 1996


Der Europäische Ministerrat lehnte ab, einen Bericht zu veröffentlichen... über das Veröffentlichen von Dokumenten.
Die Europäische Union solle transparent werden, versprachen die Regierungschefs 1992. Um die Verwaltung bürgernaher zu machen, sollte ein Verhaltenskodex den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europarats erleichtern. Nach zwei Jahren wurde die Praxis vom Generalsekretariat des Ministerrats der Europäischen Union evaluiert.

Dieser Auswertungsbericht war bereits im Juli fertig, wurde aber erst Ende Oktober freigegeben - nach verschiedenen Anträgen auf Einsichtnahme. Anfangs wurde der Bericht auf Antrag Frankreichs und der Niederlande als vertraulich eingestuft. Die (Niederländische, Anmkg.) Grüne Linke fragte den Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten Patijn nach dem Grund. Die Antwort kam postwendend Mitte November und ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

Die Niederlande halten den Tenor dieses Berichts für diskutabel. Überdies enthält er Empfehlungen, die im Grunde auf eine weitere Beschränkung des Zugangs zu Dokumenten hinauslaufen. Am liebsten hätten die Niederlande den Bericht hinter verschlossenen Türen debattiert, aber nach drei Monaten erwies es sich als unvermeidlich, ihn der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Niederlande verlangten dann, es müsse deutlich gemacht werden, daß der Bericht ganz Sache des Generalsekretariats sei und nicht die Meinung der Mitgliedstaaten wiedergebe.

Aufgrund des Verhaltenskodex unterliegen alle Zusammenkünfte des Ministerrats der Geheimhaltung, Tagesordnung und Sitzungsprotokolle eingeschlossen. Seit dem Vertrag von Maastricht gleicht Europa immer mehr einem eigenen Staat. Die Europäische Union (EU) beschäftigt sich mit Verteidigung, auswärtigen Angelegenheiten, Immigration und Asylpolitik. Die Angleichung der Polizei- und Justizpolitik, heimlich vorbereitet in den Verhandlungen von Trevi und Schengen, fällt seit Maastricht ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich der EU.
Diese zweite und dritte Säule der EU funktionieren zwischen den Regierungen: die nationalen Regierungen (vertreten im Ministerrat) schließen Verträge miteinander, auf die niemand Einfluß nehmen kann, auch nicht die Parlamente.
Der Verhaltenskodex bietet alle Möglichkeiten, Beschlüsse, die ohnehin ohne jede demokratische Kontrolle gefaßt wurden, der Öffentlichkeit vorzuenthalten.
Die Kontrollierbarkeit der Beschlußfassung nimmt damit weiter ab. Eben jetzt, da sich die EU wie ein europäischer Staat verhält, ist es von großer Wichtigkeit, den demokratischen Gehalt der Union genau im Auge zu behalten. Die Bereitschaft, Unterlagen auf Anfrage Journalisten und anderen interessierten Bürgern zugänglich zu machen, ist dafür ein guter Maßstab.
Die Evaluierung des Verhaltenskodex durch den Ministerrat macht wenig Hoffnung.

Der Bericht erlaubt einen kleinen enthüllenden Blick hinter die Kulissen der für den Zugang der Öffentlichkeit verantwortlichen europäischen Beamten.
In der Zeit von 1994 bis 1995 erhielt der Ministerrat 142 Anträge auf Einsichtnahme in insgesamt 443 interne Akten. Das Generalsekretariat klagt über das Maß an Arbeit, welche die Anträge verursachen, zumal wenn Fragen ungenau formuliert sind. Der Rat tendiert dazu, Anträge auf alle Vorbesprechungen zu einem Gesetzesentwurf X oder alle Änderungsanträge für Artikel Y nicht zu beraten. Daß der Antragsteller schwer gezwungen werden kann, mehr Einzelheiten anzugeben, wenn er nicht weiß, welche Akten verfügbar sind, erkennt der Rat als Problem an. Die Frage nach näherer Spezifikation darf nicht als Ablehnung des Antrags aufgefaßt werden, rät der Bericht.
Als besondere Schwierigkeit kommt hinzu, daß der Verhaltenskodex sich auf alle Dokumente des Rats bezieht (im Bericht doppelt unterstrichen), auch auf vorbereitende Akten, die gar nicht zur Beschlußfassung führen. Großen Umstand macht auch das Berufungsverfahren.
Die Zeit und Manpower, die investiert werden müssen, um Experten, Botschafter und betroffene Minister zu konsultieren, ist fürchterlich außer Kontrolle geraten. Exzessiv sogar, der Begriff taucht verschiedene Male auf. Der Zugang zu 156 Dokumenten wurde bis in die letzte Instanz abgewiesen. Der Verhaltenskodex bietet dazu eine Vielfalt von Ablehnungsgründen an, zum Beispiel eine Berufung auf das allgemeine Interesse, die Privatsphäre Betroffener oder die Wettbewerbsklausel. Aber in beinahe der Hälfte aller Fälle wurde die Einsichtnahme schlichtweg abgelehnt, um die Vertraulichkeit der Beratungen des Rates zu schützen.
Mit anderen Worten: ein Dokument ist geheim, weil es schon geheim war, und daher bleibt es geheim.

Wohin das in der Praxis führen kann, erfuhr die Zeitschrift der schwedischen Journalistengewerkschaft. Die Redaktion forderte in Brüssel und in Stockholm zwanzig Dokumente über Europol an, den Zusammenschluß europäischer Polizeiapparate.
Der Unterschied zwischen dem europäischen Recht auf Zugang zu Informationen und dem viel gerühmten schwedischen Recht auf freien Zugang zu Regierungsdokumenten wurde schnell deutlich. Achtzehn der zwanzig Dokumente könnten, so die schwedischen Behörden, problemlos zugänglich gemacht werden. Der europäische Ministerrat kam nur auf zwei, und nach einem Protest auf noch zwei weitere.
Da jedermann das Recht hat zu erfahren, was Europol vor hat, legten die Journalisten beim europäischen Gerichtshof gegen die Ablehnung, die übrigen Unterlagen zugänglich zu machen, Berufung ein. Das Verfahren läuft noch, aber der Evaluierungsbericht nimmt derweil eine Entscheidung voraus. Der Verhaltenskodex würde überflüssig, wenn, entgegen den Beschlüssen des Rats, jedermann via einer Behörde Dokumente erhalten könne, behauptet das Generalsekretariat. Das kann nicht so ohne weiteres gehen.

Pikantes Detail: Der schwedische Verband investigativer Journalisten setzte die Ablehnung des Ministerrats auf seine Web-Site, und das kam nicht gut an. Der Gerichtshof stand auf der Seite des Rats und drohte, die Behandlung der Sache einzustellen, wenn die Dokumente nicht aus dem Internet entfernt würden. Daß die Journalisten nichts mit diesem Website zu tun hatten, wurde dem Gerichtshof erst klar, als alle Verweise auf die Journalistengewerkschaft (ihr Logo und der Aufruf zu finanzieller Unterstützung) entfernt waren. So konnten die umstrittenen Dokumente und die Ablehnung des Rats - nach schwedischem Recht öffentliche Unterlagen - weiter dort liegen.

Beim Europarat ist man solchen Leuten nicht wohlgesonnen. Der Evaluierungsbericht spricht mit kaum verhohlener Irritation über das Problem der Anträge, die als übertrieben erachtet werden können oder zu unverhältnismäßig hohen Kosten führen. Seite 9: Der Charakter einiger Anträge läßt vermuten, daß es darum geht, an die Grenzen des Systems zu kommen. Ein Antragsteller allein war für 14 Anträge verantwortlich, die auf mehr als 150 Dokumente Bezug nahmen, das heißt, unterstreicht das Schriftstück, für mehr als ein Drittel der gesamten Dokumente aller anderen Antragsteller zusammen.
Das müsse verboten werden, findet das Generalsekretariat, das die Auswertung erstellte, dazu haben wir weder genug Geld noch Personal. Die Menschen müßten zukünftig einen Grund angeben, warum sie bestimmte Dokumente einsehen wollen. Offensichtlich übertriebene Anträge auf Einsichtnahme können dann unter Verweis auf diesen Grund zurückgewiesen werden.

Mit dem häufigen Antragsteller ist Tony Bunyan gemeint, Redakteur des englischen Bürgerrechts-Bulletins Statewatch. Wenn jemand legitime Akteneinsicht beantragt, dann er. Alle internen Akten, welche Bunyan über Verfahren erhält, stehen zusammengefaßt und mit Kommentar versehen in Statewatch. Es bietet einen breiten Überblick über die Einschränkungen des europäischen Bürgers, besonders auf dem Gebiet der Justiz und der inneren Angelegenheiten (der sogenannten dritte Säule).
An Tony Bunyan sind die zusätzlichen Hindernisse, wie sie der Auswertungsbericht vorsieht, verschwendet. Er kennt den Widerstand aus der Praxis wie kein anderer und läßt sich dadurch nicht abhalten. Der Kampf gegen Geheimhaltung ist kein Ziel an sich. Er ist ein Mittel, um Beschlüsse an die Öffentlichkeit zu bringen, die jeden in Europa betreffen.
Um herauszufinden, wie die europäische Asylpolitik genau funktioniert, beantragte Bunyan beim Ministerrat 65 Dokumente. 27 Akten durfte er einsehen, mußte jedoch nach Brüssel fahren und selbst für die Kopierkosten aufkommen. Nach einer Beschwerde wurden zwölf weitere Dokumente freigegeben. Die übrigen Akten blieben geheim, um die nationalen Positionen der Mitgliedsstaaten zu schützen, laut Bunyan eine Möglichkeit, um Ansichten von Minderheiten in bestimmten Diskussionen hinter verschlossenen Türen zu halten. Einen kleinen Sieg hat er jedoch errungen. Seit Juni muß der Statewatch-Redakteur nicht mehr zur Einsichtnahme in freigegebene Dokumente nach Brüssel reisen.

'Nachdem ich zweimal nach Belgien gereist war, wurde klar, daß die Abschreckungstaktik nicht funktionierte. Fortan wurden mir die Akten nach Hause geschickt, mit der Rechnung.' Tony Bunyan

Unter Berufung auf den Schutz der Vertraulichkeit der Beratungen sind tatsächlich alle Zusammenkünfte des europäischen Ministerrats geschlossene Veranstaltungen. Das erstreckt sich auf die Termine, die Protokolle und das Wahlverhalten der Mitgliedstaaten. Aber auch die meisten Dokumente, die diskutiert werden, sind nicht öffentlich, und manchmal werden sogar die endgültigen Vereinbarungen von Regierungen untereinander nicht bekannt gemacht.
Das niederländische Parlament hat allerdings bei der Ratifizierung des Schengener Vertrags eine Ausnahmebedingung gestellt. Die Regierung darf Beschlüssen in der dritten Säule ohne Konsultation des Parlaments nicht zustimmen. Daher erhalten Parlamentarier der zweiten Kammer doch Einsicht in geheime Akten, wenn auch auf vertraulicher Basis.
Wie wenig das in der Praxis bedeutet, zeigt sich in der Beschlußfassung über Europol, dem Zusammenschluß europäischer Polizeiapparate. Der Entwurfsvertrag war geheim, die Parlamentarier, die ihn einsehen durften, hatte jedoch ihre Zweifel. Sie stellten strenge Anforderungen: es gibt keinen Vertrag und keine Erweiterung der Zuständigkeiten, solange die kontrollierende Rolle des europäischen Gerichtshofs nicht geregelt ist. Zudem sollen Bürger zu europäischen Datenbanken Zugang haben, um Daten, die über sie gesammelt wurden, korrigieren zu können.
Bevor etwas fixiert war, startete bereits die Europäische Drogeneinheit (European Drug Unit, EDU), als Vorläufer von Europol. Achtzig Menschen sind in Den Haag mit Informationsaustausch und strategischer Analyse beschäftigt, ohne daß klar ist, was genau unter diesen Bereich fällt.
Der Vertrag wurde schließlich im Sommer des vorigen Jahres unterzeichnet; die Ratifizierung durch die verschiedenen Parlamente der Mitgliedsländer soll Ende 1997 abgeschlossen sein, hofft der niederländische Justizminister.
Die Befugnisse der EDU wurden inzwischen auf Menschenschmuggel, illegale Einwanderung, Autodiebstahl und Nuklearkriminalität ausgedehnt. Kürzlich kam dazu noch die Koordination des Kampfes gegen Kindesmißbrauch. Die Rolle des Gerichtshofs ist noch immer nicht festgelegt.

Die Rolle der Parlamente wurde auf die Ratifizierung von Verträgen reduziert. Auf das Zustandekommen eines Vertrags haben sie keinerlei Einfluß. Parlamentsmitglieder wissen kaum, was im europäischen Zusammenhang besprochen wird, behauptet Tony Bunyan.
Eben deshalb ist es, so der Statewatch-Redakteur, sinnvoll, Termine und Protokolle anzufordern, um Einsicht in den Ablauf der Beschlußfassung zu erlangen. Leicht ist das nicht.
Im Februar dieses Jahres forderte Bunyan die Protokolle des K4-Komitees an, welches die Behörde auf dem Gebiet der Immigration und Asylpolitik und der juristischen Zusammenarbeit koordiniert. Er beantragte die Protokolle von 14 Zusammenkünften und erhielt fünf. Aus der Antwort auf sein Protestschreiben ist zu ersehen, daß der Ministerrat davon ausging, daß sein Antrag auf die Protokolle des K4-Komitees mit einem früheren Antrag auf die Termine der Zusammenkünfte identisch war. Der Rat blieb bei seiner Ablehnung.
Was im Brief nicht stand, war, daß der Ministerrat über diesen Beschluß uneinig war. Die Arbeitsgemeinschaft Informationspolitik, in der die Sprecher der 15 permanenten Vertreter sitzen, tagten fünf Stunden über Bunyans Antrag auf Zugang. Sogar die Kommission der permanenten Vertreter, COREPER, welche die Sitzungen des Rats vorbereitet, widmete der Diskussion der Angelegenheit zwei Stunden. Sie wurde zum Testfall des Prinzips größerer Offenheit, wobei Frankreich, Belgien und Spanien sich besonders gegen die Aufhebung von Geheimhaltung wandten. Der Vorschlag, alle Protokolle freizugeben, wurde schließlich mit acht gegen sieben Stimmen abgelehnt. Dafür waren Dänemark, Irland, Griechenland, die Niederlande, Finnland, Schweden und England.
Tony Bunyan reicht Ende November fünf Klagen beim europäischen Ombudsman gegen die Zugangsregelung des Ministerrats ein.

Wer die Vorschläge des Generalsekretariats nacheinander betrachtet, muß den Schluß ziehen, daß es mit der Transparenz des Ministerrats traurig bestellt ist. Die Zeitspanne von einem Monat für eine Antwort des Rats auf eine Berufungseingabe soll verdoppelt werden. Das bedeutet eine Wartezeit von mindestens vier Monaten für eine Akteneinsicht oder Ablehnung.
Eine öffentliche Behörde braucht genug Personal und ein angemessenes Budget, um dafür zu sorgen, daß Menschen innerhalb eines vertretbaren Zeitraums eine Antwort erhalten. Das sollte die Grundlage des Verhaltenskodex sein. Ein Vorschlag ist im Evaluierungsbericht zu finden, der zu einem transparenteren Zugangsverfahren beiträgt, und der ist dann auch sehr vorsichtig formuliert. Die Möglichkeit, Zugang zu einem Verzeichnis der Ratsdokumente zu erhalten, sollte erwogen werden können.
Staatssekretär Patijn hat versichert, daß die Niederlande sich dafür einsetzen wollen. In Schweden existiert bereits ein solches Verzeichnis, auch von europäischen Dokumenten, und es kann per Computer eingesehen werden. Das geht, weil für die schwedischen Behörden das eigene Recht auf Zugang zu Informationen mehr wiegt als die europäischen Regelungen.
Die Niederlande sollten sich daran ein Beispiel nehmen. Im Maastricht-II-Vertrag müssen wieder Garantien zur Transparenz der Europäischen Union gegeben werden. Schweden will weitergehen, und das Recht auf Zugang zu Dokumenten mit einer Verpflichtung zur Verschaffung von Information in den Vertrag der Europäischen Union aufnehmen. Ende November legte das Rathenau-Institut dem niederländischen Parlament ein Gutachten vor. Zentrale These: die Regierung ist verpflichtet, jedem, der darum ersucht, Information in elektronischer Form zur Verfügung zustellen, zu einem möglichst niedrigen Preis und in einer verständlichen Form.

Warum also legen die Niederlande das Verzeichnis europäischer Dokumente nicht ins Internet? Dieser Schritt würde die Europäische Union ein Stück transparenter und bürgernäher machen. Darüber hinaus würde es einen wirklichen Beitrag zu einem Europa ohne Grenzen leisten.

Information auf dem Internet in der schwedischen Europol-Angelegenheit

Datenbank von Statewatch


Evel